Pfingstsonntag, 23.05 2021

Von Pfarrer i.R. Andreas Schiel 

Predigtgedanken zu 1. Mose 11, 1 – 9 „Der Turmbau zu Babel“ 

„Immer höher, immer höher wird der Turm gebaut. Immer höher, immer höher, Leute, kommt und schaut. Immer höher, immer höher bauen Stein auf Stein. Immer höher, immer höher soll der Turm noch sein.
1. Auf, Leute! Packt mit an, dann geht es gut voran. Auf, Leute, packt doch zu, dann schaffen wir's im Nu! 
2. Kommt her und schaut euch an, was jeder von uns kann. Ach, sind wir klug und schlau, drum glückt auch dieser Bau. 3. Stärke und Macht und Geld regieren nur die Welt. Schwache unterliegen, weil nur die Stärksten siegen. 
4. Wir sind die Herrn der Welt und tun, was uns gefällt. Wir werden mächtig sein, wie dieser Turm aus Stein.“ 
Mit diesem Lied des Kinderchors beginnt der Videogottesdienst zu Pfingsten, der seit heute auf unserer Homepage steht. Wenn Sie können, dann schauen Sie sich ihn an. Aber wie endet das Lied? „Immer höher, immer höher wird der Turm gebaut. Immer höher, immer höher, Leute, kommt und schaut. Viele Hände, viele Hände bauen Stein auf Stein. Doch am Ende, ja, am Ende stürzt der Turm dann ein.“ Wir sitzen immer wieder in den Trümmern unserer großen Türme und Träume, und es scheint, als werden wir aus Schaden nicht klug. Die Erzählung vom „Turmbau zu Babel“ spielt zwar vor aller Zeit, in der Urgeschichte. Aber gleichzeitig spielt sie genauso heute mitten in unserer Welt. 
Hören wir sie uns an: „Es hatte aber alle Welt einerlei Zunge und Sprache. Als sie nun von Osten aufbrachen, fanden sie eine Ebene im Lande Schinar und wohnten daselbst. Und sie sprachen untereinander: Wohlauf, lasst uns Ziegel streichen und brennen! – und nahmen Ziegel als Stein und Erdharz als Mörtel und sprachen: Wohlauf, lasst uns eine Stadt und einen Turm bauen, dessen Spitze bis an den Himmel reiche, dass wir uns einen Namen machen; denn wir werden sonst zerstreut über die ganze Erde. Da fuhr der HERR hernieder, dass er sähe die Stadt und den Turm, die die Menschenkinder bauten. Und der HERR sprach: Siehe, es ist einerlei Volk und einerlei Sprache unter ihnen allen und dies ist der Anfang ihres Tuns; nun wird ihnen nichts mehr verwehrt werden können von allem, was sie sich vorgenommen haben zu tun. Wohlauf, lasst uns hernieder fahren und dort ihre Sprache verwirren, dass keiner des andern Sprache verstehe! So zerstreute sie der HERR von dort über die ganze Erde, dass sie aufhören mussten, die Stadt zu bauen. Daher heißt ihr Name Babel, weil der HERR daselbst verwirrt hat aller Welt Sprache und sie von dort zerstreut hat über die ganze Erde.“ 
„Wir wollen uns einen Namen machen“, sagen die Menschen in der biblischen Geschichte. Immer wieder wollen wir uns „einen Namen machen“ und bauen Türme, die bis in den Himmel ragen. Als die Erzählung einst aufgeschrieben wurde, handelte es sich um den Etemenanki, das „Haus der Fundamente von Himmel und Erde“, wie der Tempelturm zu Ehren des Gottes Marduk in Babylon hieß. König Nebukadnezar II, der Erbauer, verkündete stolz, der Turm habe bis zum Himmel gereicht. 91 Meter war der Etemenanki im 6. Jahrhundert vor Christi Geburt hoch. Das Empire State Building maß 1931 schon 381 Meter. Das zur Zeit höchste Gebäude, der Burj Khalifa in Dubai, ragt 828 Meter in den Himmel. 
„Immer höher, immer höher wird der Turm gebaut. Immer höher, immer höher Leute kommt und schaut.“ Der Wettlauf um das höchste Gebäude scheint kein Ende zu nehmen. Und auch nicht der Wettlauf darum, wessen Name am größten ist. Aber ist den Menschen damit geholfen? Ist die Verständigung zwischen ihnen größer geworden oder nützt der Bau nur dem Bauherrn, dem Herrscher? 
„Wir wollen uns einen Namen machen“. Wir wollen so mächtig sein wie Gott. Dieser Irrsinn geht immer weiter. Es sind nicht nur Türme, die gebaut werden, um sich zu verewigen. Schlimmer noch: Kriege werden geführt, Länder erobert, Völker unterjocht und fast ausgerottet. Die Geschichte ist voll furchtbarer Beispiele, wie Machthaber Unheil über die Menschheit bringen, weil sie ihren Willen durchsetzen wollen. Weil sie meinen, sie wären Gott gleich und könnten über alles und alle bestimmen. Das hat sich seit den Zeiten der „Gottkönige“ des Altertums bis heute wenig geändert. Denken Sie nur an den vorigen US-Präsidenten, der seine Anhänger 
dazu anstachelte, das Capitol zu stürmen, um die formelle Bestätigung der Wahl seines Nachfolgers zu verhindern. Fünf Menschen kamen dabei ums Leben, weil ein Mensch seine Niederlage nicht eingestehen konnte. 
Auch Völker wollen sich „einen Namen machen“, indem sie über andere herrschen und ihnen ihre Sprache und ihre Kultur aufzwingen. Zur Zeit des Alten Testaments waren es die Assyrer und Babylonier, die Teile der besiegten Völker umsiedelten und andere Menschen an ihrer Statt im Land ansiedelten. Damit sollten die besiegten Völker ihre kulturellen und religiösen Wurzeln verlieren und die Kultur und Religion der Sieger übernehmen. Heute sind es die Han- Chinesen, die Teile der Minderheiten der Uiguren und Tibeter in „Umerziehungslager“ stecken, damit sie ihre Kultur und Religion ablegen und „richtige“ Chinesen werden. 
„Wir wollen uns einen Namen machen“. Wir wollen mächtig sein und anderen unsere Kultur und Religion, unseren Willen aufdrücken, das ist unser Problem seit den Zeiten des Turmbau zu Babel. Dabei bleibt die Verständigung zwischen uns Menschen auf der Strecke. Es sind weniger die verschiedenen Sprachen, die wir sprechen, als das fehlende Verständnis füreinander, für die Sprache, die Kultur und Religion, für die Lebensweise der anderen, was vielen Menschen das Leben zur Hölle werden lässt. Es fehlt das Verständnis dafür, was die anderen benötigen, damit alle genug zum Leben haben und nicht nur einige wenige alles. 
„Wir wollen uns einen Namen machen; denn wir werden sonst zerstreut über die ganze Erde.“ Im Grunde steckt hinter all dem Größenwahn eine große Angst: die Angst unbedeutend zu sein und keine Rolle zu spielen. Deshalb muss alles, müssen sich alle dem einen Namen, der einen Idee oder Partei unterordnen, damit dieser Name groß und bedeutend genug ist, dass er nicht in Vergessenheit gerät. 
Aber während wir so darauf aus sind, „uns einen Namen zu machen“, verlieren wir Gott aus den Augen. Gott, der uns doch gerade in der Vielfalt, in der wir leben, geschaffen hat. Der zu uns sagt: „Fürchte dich nicht; denn ich habe dich erlöst. Ich habe dich bei deinem Namen gerufen, du bist mein.“ Gott kennt jede und jeden von uns mit Namen. Und deshalb ist unsere Angst, wir seien unbedeutend und müssten uns mit aller Macht „einen Namen machen“, unbegründet. Wir haben einen Namen und sind für Gott einzigartig. 
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Dass wir einander verstehen können, das zeigt uns die Geschichte von Pfingsten, wo Gottes Geist zu uns Menschen kommt und den Geist der Herrschsucht verdrängt. Wo Menschen die Sprache der Liebe und der Gemeinschaft lernen und den Egoismus hinter sich lassen. Das bedeutet nicht, dass wir auf einmal alle die gleiche Sprache sprechen. Aber wir können einander verstehen, weil wir uns verstehen wollen. Weil Gottes Geist uns das Verständnis füreinander ermöglicht. Deshalb: „Komm, Heilger Geist, mit deiner Kraft, die uns verbindet und Leben schafft. Schenke uns von deiner Liebe, die vertraut und die vergibt. Alle sprechen eine Sprache, wenn ein Mensch den andern liebt.“ Amen.