Exaudi, 16.05.2021

Von Pfarrer i.R. Andreas Schiel

Predigtgedanken über Johannes 16, 5 – 15

Eine Frau und zwei Männer stehen nachts auf einem nebligen Flugplatz. Gleich startet das Flugzeug nach Lissabon, in die Freiheit. Aber nur für zwei von ihnen gibt es ein Visum für diesen Flug. Einer muss zurückbleiben. Was tun? Da schickt der eine Mann die Frau mit dem anderen Mann zum Flugzeug und bleibt allein zurück in – erinnern Sie sich? – „Casablanca“. Und Ingrid Bergmann fragt verzweifelt: „Was wird aus uns?“ Darauf antwortet Humphrey Bogart: „Uns bleibt Paris.“
„Was wird aus uns?“, das ist die entscheidende, die drängende Frage des Abschieds – zumal wenn es ein Abschied auf unbestimmte Zeit oder sogar für immer ist. In diesem Satz klingt die ganze Trauer, das Nicht-Wahrhaben-Wollen, die Verzweiflung des Abschieds mit. „Was wird aus uns?“ Aus dir, die du fortgehst, aus mir, der ich zurückbleiben muss und „Hinterbliebener“ werde, wenn es sich um einen Abschied vom Leben handelt. „Was wird aus unserer Beziehung?“ Wird sie die Zeit der Trennung überstehen? Oder im Falle des Todes: Wird die Erinnerung an sie zur Basis für ein neues Leben ohne den Verstorbenen werden können? Oder wird sie mein weiteres Leben behindern? Wer kann das in der Stunde des Abschieds wissen?! Gerade das macht ihn so schwer!
„Was wird aus uns?“, fragen auch die Jünger. „Wir haben alles verlassen!“, macht Petrus Jesus klar. Familie, Beruf, das alte Leben – alles haben wir hinter uns gelassen, um dir zu folgen. Was wird aus uns, wenn du uns jetzt verlässt? Das können wir nicht aushalten. Und deshalb: „Play it again, Sam. Play it for old times’ sake.“ „Spiel das Lied noch einmal.“ Lass uns in die „gute alte Zeit“ zurückkehren, als von Abschied noch keine Rede war.
Aber das geht nicht. Vier Kapitel lang spricht Jesus deshalb über seinen Abschied, redet den Jünger gut zu. Die bleiben die meiste Zeit stumm, wie betäubt. Sie wissen nicht, was sie sagen sollen. Sie fühlen sich schon jetzt einsam und verlassen, obwohl Jesus noch bei ihnen ist. Was kann sie trösten? Der, den Martin Luther in seiner Bibelübersetzung den „Tröster“ nennt: der Heilige Geist. Ihn wird Jesus zu den Jüngern senden, wenn er sie verlassen hat, damit sie sich nicht so allein gelassen fühlen. „Jetzt aber gehe ich hin zu dem, der mich gesandt hat; und niemand von euch fragt mich: Wo gehst du hin? Doch weil ich dies zu euch geredet habe, ist euer Herz voll Trauer. Aber ich sage euch die Wahrheit: Es ist gut für euch, dass ich weggehe. Denn wenn ich nicht weggehe, kommt der Tröster nicht zu euch. Wenn ich aber gehe, werde ich ihn zu euch senden.“
Trösten, das bedeutet zuerst: die Erinnerung wachhalten. Wenn schon die Geliebte, der Partner nicht mehr bei mir ist, dann benötige ich wenigstens die Erinnerung an ihn/sie. An das, was in unserem Leben gelungen ist. Was wir gemeinsam aufgebaut oder ertragen haben. Gewiss, die Erinnerung tut weh, weil mir schmerzlich bewusst wird, dass die Zeit vorbei ist. Aber die Erinnerung tut auch gut. Sie erhält die Verbindung zu dem was bisher Fundament meines Lebens war – „in guten wie in schlechten Zeiten“. Sie bestätigt mir, dass mein bisheriges Leben nicht vergeblich war trotz der Trauer, die mich jetzt belastet. Ich brauche ein solches Fundament der guten Erinnerung, damit ich meinen neuen Lebensabschnitt darauf bauen kann.
Der Heilige Geist ist „Tröster“, aber er ist kein Ersatz für Jesus. Trost ist nie Ersatz für etwas, das ich verloren habe. Aber er hilft mir, den Verlust zu verarbeiten und wieder festen Boden unter den Füßen zu bekommen. Ohne festen Boden drohe ich, in der Trauer zu versinken. Aber das allein reicht nicht aus. Wenn ich in der Vergangenheit

verharre, kann ich nicht zu einem neuen Leben finden. Kann ich nicht entdecken, dass es eine Zukunft für mich gibt, auch wenn ich durch den Abschied „Hinterbliebener“ geworden bin. Ich brauche Mut, um mich der Zukunft zuwenden und Neues erleben zu können. Ich benötige Zuversicht, um auf das Fundament der Erinnerung etwas Neues aufzubauen.
Der Heilige Geist ist nicht nur der „Tröster“, sondern auch der „Geist der Wahrheit“: „Wenn aber jener kommt, der Geist der Wahrheit, wird er euch in aller Wahrheit leiten. Denn er wird nicht aus sich selber reden; sondern was er hören wird, das wird er reden, und was zukünftig ist, wird er euch verkündigen. Er wird mich verherrlichen; denn von dem Meinen wird er's nehmen und euch verkündigen“, sagt Jesus seinen Jüngern. „In aller Wahrheit“ wird sie der Heilige Geist „leiten“. Aber „was ist Wahrheit?“, fragt der römische Statthalter Pontius Pilatus Jesus im Verhör. Was wahr ist, kann er nicht wissen. Es interessiert ihn auch nicht. Er richtet sich nur nach dem, was der Kaiser verkündet. Aber das kann sich schon morgen ändern – oder spätestens mit dem nächsten Kaiser.
„Was ist Wahrheit?“ Was ist Sinn und Ziel meines Lebens? Wer diese Frage beantworten kann, hat ein Koordinatensystem, das ihm hilft, sein Leben immer wieder neu auszurichten. Der verliert auch bei einem schmerzlichen Abschied seine Lebensrichtung nicht ganz aus den Augen.
„Ich bin der Weg, die Wahrheit und das Leben“, sagt Jesus zu seinen Jüngern. Ich bin das Koordinatensystem für euch, das euch den Weg zum wahren Leben zeigt. Wahres Leben oder „Leben aus der Wahrheit“ ist Leben in dem Wissen, dass Gott und wir Menschen Freunde sind. Ist Leben in dem Wissen, dass wir Anteil haben an der allumfassenden Welt Gottes, die viel größer ist als unsere begrenzte Erde und unser kurzes Leben. Wer das weiß oder auch nur ahnt, ahnt oder weiß auch, dass der Abschied von Jesus nur ein vorübergehender ist. Es wird ein Wiedersehen geben, und dann werden alle Fragen und alle Trauer zu Ende sein, verspricht Jesus: „Ihr habt nun Traurigkeit; aber ich will euch wiedersehen, und euer Herz soll sich freuen, und eure Freude soll niemand von euch nehmen. Und an jenem Tage werdet ihr mich nichts fragen.“ Der „Geist der Wahrheit“ zeigt uns das Koordinatensystem für unser Leben. Er hält die Zuversicht auf die Zukunft und damit die Hoffnung für unser Leben wach – aller Trauer zum Trotz.
„Was wird aus uns?“, fragt Ingrid Bergmann Humphrey Bogart in „Casablanca“. Das fragen auch die Jünger Jesus. Die Antwort lautet: Wir haben den Heiligen Geist, der uns tröstet und in der Wahrheit leitet und uns zum Leben hilft.
Amen.