Kantate, 02.05.2021

Von Pfarrer i.R. Andreas Schiel

Predigtgedanken zu  Lukas 19, 37 – 40 

Liebe Gemeinde,
„Singt dem Herrn ein neues Lied, denn er tut Wunder“. Heute geht das nicht; denn wir dürfen nicht singen, dürfen nur stumm oder innerlich mitsingend der Orgel zuhören. Wie gern würden wir wieder einmal aus voller Kehle im Gottesdienst singen. Egal ob wir den Ton treffen oder nicht. Hauptsache singen! Nur nicht stumm wie ein Fisch dasitzen und zuhören müssen. Was für eine Qual, gerade am Sonntag Kantate, „singt!“ Wir können eigentlich nicht stumm dasitzen, wir müssen mitsingen; denn so sind wir am Gottesdienst beteiligt. Was wäre ein Gottesdienst ohne Gemeindegesang? Er wäre unvollständig, das merken wir zurzeit schmerzlich. Lieder können etwas über unsere Stimmung aussagen, können die Stimmung verändern. Sie können trösten, sie können der Freude Ausdruck verleihen und der Trauer. Sie können Mut machen. Sie lassen uns erleben, dass wir nicht allein sind, sondern in einer Gemeinschaft. Und diese Gemeinschaft trägt uns und gibt uns Kraft.
„Singt dem Herrn ein neues Lied, denn er tut Wunder“. Lieder singen von der Hoffnung auf Befreiung von Knechtschaft und Tyrannei. Sie singen von einem besseren Leben und davon, dass Gott ihnen zur Seite steht. „Ein feste Burg ist unser Gott“, ist das Lied der Reformation. Es gab Martin Luther und den Protestanten Kraft zum Widerstand nicht nur gegen den Teufel, den „alt bösen Feind“, sondern auch gegen die katholische Kirche und den Kaiser, es gab Hoffnung auf Gottes Beistand und Zuversicht, dass ihre Sache gerecht war:
„Ein feste Burg ist unser Gott, ein gute Wehr und Waffen.
Er hilft uns frei aus aller Not, die uns jetzt hat betroffen.
Der alt böse Feind, mit Ernst er's jetzt meint;
groß Macht und viel List sein grausam Rüstung ist, auf Erd ist nicht seinsgleichen.
Mit unsrer Macht ist nichts getan, wir sind gar bald verloren;
es streit für uns der rechte Mann, den Gott hat selbst erkoren.
Fragst du, wer der ist? Er heißt Jesus Christ,
der Herr Zebaoth, und ist kein andrer Gott; das Feld muß er behalten.
Und wenn die Welt voll Teufel wär und wollt uns gar verschlingen,
so fürchten wir uns nicht so sehr, es soll uns doch gelingen.
Der Fürst dieser Welt, wie saur er sich stellt,
tut er uns doch nichts; das macht, er ist gericht: ein Wörtlein kann ihn fällen.“
In einer Welt, die für die Protestanten damals „voll Teufel“ war, wussten sie Christus auf ihrer Seite.
„Singt dem Herrn ein neues Lied, denn er tut Wunder“. Lieder können die Wirklichkeit transzendieren. Sie können Menschen Kraft geben, ihre Situation zu ertragen und sogar zu verändern: Etwa 300 Jahre nach Martin Luther haben schwarze Sklaven auf den Baumwollfeldern in den Südstaaten der USA bei der Arbeit und in den Gottesdiensten in ihren Hütten gesungen. Sie haben Gott mit ihren Liedern ange eht, ihnen die Kraft zu geben, ihr Los zu ertragen. Denn sie wussten, nur Gott bzw. Jesus versteht ihr Situation:
“Nobody knows the trouble I've seen. Nobody knows but Jesus.
Nobody knows the trouble I've seen. Glory Hallelujah!“
Und sie haben Lieder über die große Befreiungstaten der Bibel gesungen, weil sie daran glaubten, dass Gott auch sie befreien würde:
„When Israel was in Egypt’s land: Let my people go.
Oppress’d so hard they could not stand, let my people go.
Go down, Moses, way down in Egypt land, tell old Pharaoh, let my people go.”
 –– –
„Singt dem Herrn ein neues Lied, denn er tut Wunder“. Als Jesus mit seinen Jüngern in Jerusalem einzieht, singen diese von den Wundern Gottes, die Jesus vollbracht hat und preisen Jesus als König: „Jesus kam zu der Stelle, wo der Weg vom Ölberg nach Jerusalem hinabführt. Da brach die ganze Schar der Jüngerinnen und Jüngerin lauten Jubel aus. Sie lobten Gott für all die Wunder, die sie miterlebt hatten. Sie riefen: »Gesegnet ist der König, der im Namen des Herrn kommt! Friede herrscht im Himmel und Herrlichkeit erfüllt die Himmelshöhe!« Es waren auch einige Pharisäer unter der Volksmenge. Die riefen ihm zu: »Lehrer, bring doch deine Jünger zur Vernunft!« Jesus antwortete ihnen: »Das sage ich euch: Wenn sie schweigen, dann werden die Steine schreien!«“
Das Lied der Jüngerinnen und Jünger muss den Umstehenden ähnlich geklungen haben wie die Spirituals der Schwarzen: als Lied der Befreiung und als Ruf nach Gottes Hilfe. Denn mit dem „König, der im Namen des Herrn kommt“, war eben nicht der Kaiser in Rom gemeint und auch nicht Herodes Antipas, der aus Roms Gnaden in Galiläa regieren durfte. Nein, ihr König kam im Namen Gottes, des alleinigen Herrn der Welt. Dessen Frieden war aber ein anderer als die „Pax Romana“, der römische Gewaltfrieden, unter dem die Menschen in Israel zu leiden hatten, und dem wenige Tage später auch Jesus am Kreuz, dem römischen Marterinstrument, zum Opfer fallen würde. Dieser Friede Gottes, der schon „in den Himmeln herrscht“, sollte mit Jesu Einzug in Jerusalem auch auf Erden einziehen. Und seine Herrlichkeit sollte nicht nur „die Himmelshöhe erfüllen“, sondern auch die Erde in ein neues Licht kleiden. Jesus hatte sie doch zu beten gelehrt: „Unser Vater im Himmel! Dein Name werde geheiligt. Dein Reich komme. Dein Wille geschehe wie im Himmel so auf Erden.“ Die Hoffnung auf Veränderung und der Widerstand gegen die bestehenden Verhältnisse haben die Menschen zum Singen gebracht. In Jesus und seinen Wundern sahen sie Gottes Reich und damit auch das Ende der Besatzung durch Rom zum Greifen nahe. Es ist kein Wunder, dass sie zu singen begannen und ihrer Freude, aber auch ihren Erwartungen Ausdruck verliehen.
Es ist aber auch kein Wunder, dass umstehende Pharisäer Jesus dazu bringen wollen, die Jüngerinnen und Jünger zu stoppen. Denn was sie rufen und hoffen, ist gefährlich für alle, die an der Macht der Römer teilhaben. Deshalb soll Jesus sie zum Schweigen bringen. Sie sollen „mundtot“ gemacht werden. Aber Jesus erwidert nur: „Wenn sie schweigen, dann werden die Steine schreien!“
Die Menge mag Jesus damals falsch verstanden haben. Er wollte nicht König von Israel werden und die Römer aus dem Land jagen. Denn sein „Reich ist nicht von dieser Welt“. Aber Jesus hat die Menschen und ihren legitimen Wunsch nach einem anderen König und einem anderen Frieden richtig verstanden. Sie wollten nicht mehr schweigen und nicht mehr unterdrückt werden. Mit ihrem Gesang wollten sie ihrem Wunsch nach Veränderung Ausdruck verleihen. Jesus hat die Machthaber gewarnt, dass Menschen sich auf Dauer nicht „mundtot“ machen lassen. Denn „wenn sie schweigen werden, dann werden die Steine schreien.“ Gott ist auf der Seite der Unterdrückten und derer, die auf eine andere Welt hoffen. Eine Welt, in der Gottes Friede herrscht und seine Herrlichkeit alles erfüllt – nicht die Macht der Mächtigen. Darauf haben auch die Protestanten vertraut, als sie Martin Luthers „Ein feste Burg ist unser Gott“ sangen, und die Schwarzen mit ihrem Ruf nach Befreiung, „let my people go“.
„Singt dem Herrn ein neues Lied, denn er tut Wunder“. Wie sehr Kirchenlieder von der wunderbaren, verändernden Kraft Gottes singen, wird im folgenden Lied aus Lateinamerika deutlich, das den Lobgesang der Maria, das „Magni kat“, zum Thema hat:
Ich lasse Gott groß sein
1 Ich lasse Gott groß sein, ihn will ich loben,
der mich aus dem Staub und Elend gehoben, mein Schicksal mit dem der Menschen verwoben: Sie singen sein Lob, weil er mich erhob.
2 Das Wort, das mich traf im ärmlichen Zimmer, das Bollwerk der Herren legt es in Trümmer,
ist Brot auf dem Weg für heute und immer,
ist Heil, das geschieht, Shalom, der uns blüht.
3 Trotz Zeichen des Fluchs an Tischen und Wänden ich fühl mich geborgen in seinen Händen,
die stark sind, die Nacht des Tods zu beenden:
sein Atem in mir, sein Leben in dir.
4 Die Mächtigen stürzt er von ihren Thronen, er will bei den Kleinen und Armen wohnen, die Hunger gelitten wird er entlohnen:
Zu Ende die Not, wir teilen das Brot!
5 So zog er schon immer unsere Straßen, erinnert an Freiheit, die wir vergaßen,
seit Abrahams Anfang über die Maßen
sein Licht, das die Welt erwärmt und erhellt.
(vgl. Singt Jubilate 110; Melodie aus Lateinamerika, Text zum Magni kat der Maria, Lukas 1, 46-55)
Wir wollen hoffen, dass wir bald wieder von Gottes Wundern singen können, die unser Leben und die Welt verändern.
Amen.