Jubilate, 25.04.2021

Von Pfarrerin Nora Rämer

Predigtgedanken zu Joh 15,1-8

Liebe Gemeinde, nun ist Berlin nicht gerade  eines  der prominentesten  Weinanbaugebiete, doch  auch  bei uns  finden sich in manchen Gärten  Weinstöcke  und sogar  kleine  Weinberge, wie auch in Neukölln.
Im Frühjahr setzt das Wachstum ein, man sieht, die ersten Triebe suchen Halt am Spalier. Das tote Holz vom Vorjahr ist im Winter ausgeschnitten worden.
Jeder Zweig ist bis auf ein Minimum eingekürzt. Durchsichtig, fast unscheinbar wirken die Reben. Noch ahnt man nur, was sich hier entfalten wird, Blätter, starke Ranken und Trauben.
Verborgen für das Auge bleibt auch das Wurzelwerk, das reicht tief. Aus den verborgenen Gesteinsschichten zieht die Pflanze ihre Kraft ans Licht. Ein alter Weinstock reicht bis zu zwanzig Meter in die Tiefe. Ein Weinstock bedarf fachlicher  Fürsorge und Pflege. Die Reben  müssen zur rechten Zeit beschnitten werden, damit kein Schaden entsteht, der lebensspendende  Saft der Pflanze  nicht aus den Schnittstellen verrinnt.
Die Kraft, mit der der Saft in die Rebe steigt, ist nicht zu bremsen. Der Druck ist in Atü zu messen.
Ein Weinstock  ist ein wahres Kraft- und Wunderwerk  der Schöpfung.
Ich bin der wahre Weinstock und ihr die Rebe.
Wenn Jesus das Bild von der Weinrebe wählt, veranschaulicht er die Kraft und den Ursprung, die da wirken.
Sein Wort ist voll dieser Wirkmacht, es steigt auf aus der Tiefe und wirkt in das Heute hinein. 
Ein Bild dafür, wie uns das erreicht, was sich über die Jahrtausende in den biblischen Texten und in der jüdisch-christlichen Tradition als Zeugnisse unzähliger Frauen und Männer gesammelt hat. Der Mut, die Weisung, die Liebe zur Freiheit, der Aufstand gegen Unrecht, das Ringen um einen Lebenssinn durchläuft alle Schichten des Glaubens. Wir ähneln den Ranken, die das Grün von Neuem treiben und Halt suchen. Ranken,  die am Weinstock bleiben.
Uralter Weinstock, tief gewurzelt, eine Kraftquelle, von der wir profitieren. Ich bin mit drin in diesem Spiel der Kräfte. Gottes Wort schickt seine Botschaft durch die tiefen Schichten allen Wissens und jeder Bildung hindurch ins Herz und das Gehirn. Mein Mut und meine Hoffnung sind mit vielen alten Lebenskräften angereichert. Woher nähme ich die Kraft, dem lebensfeindlichen Geschwätz zu widersprechen? Woher nähme ich den Mut, der Resignation  vieler zu widerstehen?
„Bleibt in mir und ich in euch.“
Bleiben ist wohl eines der  häufigsten  gebrauchten Verben  in diesen letzten Monaten.
Bleiben Sie zu Hause! Bleiben Sie gesund! Bleiben Sie behütet, bleiben sie zuversichtlich!
Dieses Bleiben ist auch ein Stück Wahrnehmung und Wertschätzung dessen, was man hat: Gesundheit, Zuversicht ein zu Hause…
Oftmals klingt uns Bleiben zu statisch.
Aber was wäre das Gegenteil?
Im Kontext von Corona und Gesundbleiben das Krankwerden. Das will niemand.
Mit Bleiben ist  nicht  immer Regressives oder Statisches gemeint, sondern ein aktives und verantwortungsvolles bleiben, das auch politische Veränderungen bewirkt. Bleiben  als Ausdruck  von Beständigkeit. Eine verlässliche  Größe, Halt und Zuflucht,  räumlich und seelisch.
Die Kirche  bleibt und kann nicht bleiben wie  sie ist. Nicht so, wie wir sie  vor Corona  gestaltet  und gelebt  haben.
Doch das ist nicht neu. Die Kirche Jesu Christi wäre nicht 2000 Jahre alt geworden, wenn sie sich nicht ständig verändert hätte.
Vor allem aber wäre sie nicht 2000 Jahre alt geworden, wenn sie nicht bei Christus geblieben oder immer wieder zu ihm und zu seinem Wort zurückgekehrt wäre. Diesem Bleiben ist Zukunft verheißen.
Das  ist das Bild vom Weinstock:
So wenig es die Reben gäbe ohne den Weinstock, so wenig gäbe es den Weinstock ohne die Reben. Christus bindet sich an uns, seine Menschen, die ihm vertrauen und nachfolgen, im Glauben  an ihn, sein Leben, sein heilschaffendes Wort.
Es kann wohl eine Kirche geben ohne Kirchensteuer, ohne Kirchenbeamte, ja auch ohne Kirchengebäude, aber nicht ohne Christus, das Wort Gottes.
In Christus bleiben, bei seinem Wort bleiben. Darum geht es. Und mehr Frucht bringen, darum geht es auch.
 „Alle Kraft der Pflanze muss in die Frucht“, lautet die Devise der Winzer, wenn sie die Weinrebe im Winter beschneiden. Laien sehen, wie das junge Grün das Sonnenlicht sucht. Die Experten wissen, dass die tiefe Wurzel und der gewaltige Druck den Saft erst in die Zweige, dann in die Blätter und schließlich in die Früchte treiben. Und dann steigen aus der Wurzel die köstlichen Aromen aus den Tiefen des Weinberges auf. Der Glaube an Jesus Christus macht sich dieses Wissen zu eigen. Ich weiß, dass er nicht aufhören wird, mir seine Kraft zu geben, damit ich leben kann mit und durch ihn.
Manchmal ist auch an unserem Leben nur ein grünes, erstes Knospen zu erkennen. Man möchte mehr wissen vom Glauben, mehr sehen von dem, was Gott wirkt. Es sind oftmals nur erste Ahnungen von dem, was kommt. Die Ahnung sucht mit zarten Trieben Halt am Spalier und wuchert dann mit voller Kraft los. Noch ist Frühling, noch lange kein Herbst. Aber die Kräfte des Wortes Gottes drängen  
zu neuen Früchten.
Bleiben wir miteinander verbunden  in der Zuversicht auf diese lebensspende Kraft Gottes.
Amen