Judika, 21.3.2021

Von Pfarrer i. R. Andreas Schiel

Predigtgedanken zu Hiob 19, 19 – 27

„Meine engsten Freunde verabscheuen mich. Sogar diejenigen, die mir am liebsten sind, stehen mir feindselig gegenüber. Meine Haut klebt nur noch an den Knochen. Nur das nackte Leben ist mir noch geblieben. Habt Mitleid, habt Mitleid mit mir, ihr seid doch meine Freunde! Denn Gott hat mich mit diesem Unglück geschlagen. Warum verfolgt ihr mich, wie Gott es tut? Wann hört ihr endlich auf, mich zu zereischen?“ So beginnt der heutige Predigttext aus dem Buch Hiob. Hiob ist die sprichwörtliche Leidensgestalt der Bibel. Alles wird ihm genommen: seine Kinder, sein Besitz, am Ende seine Gesundheit. Auch seine Frau wendet sich von ihm ab. „Nur das nackte Leben ist mir noch geblieben“, klagt er seinen drei Freunden. 
Warum muss er leiden? Er versteht es nicht und ver ucht den Tag seiner Geburt: 
„Ausgelöscht soll er sein: der Tag, an dem ich geboren wurde! Ausgelöscht die Nacht, die verkündete: Die Eltern haben ein Kind gezeugt. Dieser Tag soll in der Finsternis verschwinden. Nicht einmal Gott in der Höhe soll nach ihm suchen. Nie mehr soll es hell werden über ihm.“ Und so wendet er sich an seine Freunde. Aber auch die, die zuerst sieben Tage bei ihm ausharren und seinen Schmerz teilen, wenden sich gegen ihn, als er beginnt, über sein Unglück zu klagen, ja sogar Gott dafür anzuklagen: „Gott hat mich mit diesem Unglück geschlagen. Warum verfolgt ihr mich, wie Gott es tut?“ 
Hiob, der unschuldig Leidende. Warum? Diese Frage stellt Hiob immer wieder, auf sie verlangt er eine Antwort, zuerst von den Freunden und dann, als sie ihm die nicht geben können oder wollen, von Gott. Warum muss er so leiden? Ist das nicht die Frage, die sich Leidende überall in der Welt auch heute stellen? 
Ich denke an Corona-Patienten auf den Intensivstationen und an den Beatmungsgeräten. 
Ich denke an die Menschen, die mit dem Tod ringen, und an ihre Angehörigen, die sie nicht besuchen können, die das Leiden von Ferne miterleben müssen. Warum trifft die Erkrankung die Einen stärker als die Anderen? Warum gerade sie und andere nicht? Bisweilen lässt sich ein Grund nennen, aber oft auch nicht. „Meine Haut klebt nur noch an den Knochen. Nur das nackte Leben ist mir noch geblieben,“ klagt Hiob. Oft bleibt im Krankenhaus nicht einmal das „nackte Leben“. 
Ich denke an die Flüchtlinge auf den Booten von Libyen nach Italien über das Mittelmeer. „Seelenverkäufer“, das Wort trifft es genau; denn viele Flüchtlinge haben für diese Chance alles verkauft. Und jetzt gehen sie auf den Schiffen unter. Oder sie werden auf den griechischen Inseln daran gehindert, an Land zu kommen, werden zurück in die Türkei geschickt. Oder sie ersticken in Lastwagen auf dem Weg nach Deutschland oder England. Ist es ein Verbrechen, dem Krieg oder dem Hunger entkommen zu wollen? „O Erde! Decke mein Blut nicht zu! Meine Unschuld schreit doch zum Himmel“, klagt Hiob an. Wie viele Flüchtlinge klagen genauso und hoffen darauf, dass das Unrecht wenigstens nicht vergessen wird?! 
Ich denke an die Menschen überall auf der Welt, die unter Rassismus, Sexismus, Hass und Gewalt leiden – in Atlanta, USA, in der vergangenen Woche, aber auch hier in Neukölln, wo der Mord an Burak Bektas immer noch nicht aufgeklärt ist, genauso wenig wie die Brandanschläge auf Autos oder der Diebstahl der Stolpersteine in der Hufeisensiedlung. „Ach, wenn ich mir doch wünschen könnte, dass meine Verteidigungsrede aufgeschrieben wird – wie bei einer Inschrift, die man in den Stein ritzt! Mit einem Meißel soll man sie in den Fels hauen und ihre Buchstaben mit Blei ausgießen.“ Hiob will, dass man sein Leiden wahrnimmt und nicht vergisst. Das wollen wir doch auch. 

Der jüdische Autor Elie Wiesel, Auschwitz-Überlebender und Friedensnobelpreisträger, hat über Hiob geschrieben: „Seine Gestalt erscheint uns vertraut, seine Prüfungen und Probleme sind im Heute verankert. In schweren Stunden greifen wir zu seinen Worten, um Zorn, Auflehnung oder Unterwerfung auszudrücken.“ Für Wiesel ist Hiob unser „Zeitgenosse“, der den heute Leidenden seine Stimme leiht. 
Das ist das Eine, was Hiob bis heute leistet: Er leiht denen seine Stimme, deren Stimmen im wahrsten Sinne des Wortes „untergehen“. Die nicht gehört und nicht gesehen werden, weil sie nicht dazu gehören. Er leiht uns die Stimme, wenn sie uns vor lauter Leiden versagt, wenn wir keinen Sinn in unserem Leiden erkennen können. „Er gehört zur verwüsteten Landschaft unserer Seele“, schreibt Elie Wiesel über Hiob. Hiob macht die „verwüstete Landschaft“ sichtbar, hörbar. Er verhindert, dass sie ganz verdrängt wird. 
Das Zweite ist: Nicht die Freunde, die Frommen behalten Recht, sondern Hiob. Die Freunde versuchen alles, Hiob davon zu überzeugen, dass er an seinem Leiden Schuld ist. Er muss gesündigt haben, sonst würde er nicht leiden. Denn es gibt kein Leiden ohne menschliche Schuld. Hiob begeht also einen Frevel, wenn er Gott anklagt. Aber am Ende gibt Gott Hiob Recht und nicht den Freunden. Das heißt, wir können unsere Klagen vor Gott bringen, ja wir können Gott sogar anklagen, wenn wir nicht verstehen, warum wir leiden müssen. Gott hält das aus. Auch wenn er auf unsere Fragen und Klagen keine uns befriedigende Antwort geben mag, Frage und Klage, sogar Anklage sind nicht verboten, wie uns die Frommen aller Zeiten weismachen wollen. Sie sind erlaubt. Das zeigt uns das Buch Hiob. 
Und als Letztes: „Ich weiß ja doch, dass mein Erlöser lebt. Als mein Anwalt wird er auf der Erde auftreten und zum Schluss meine Unschuld beweisen. Mit zerfetzter Haut stehe ich hier. Abgemagert bin ich bis auf die Knochen. Trotzdem werde ich Gott sehen. Ich werde ihn mit meinen Augen sehen, und er wird für mich kein Fremder sein. So wird es sein, auch wenn ich schon halb tot bin.“ Mit diesen Worten Hiobs endet der heutige Predigttext. Am Ende steht für Hiob mitten in seinem Leiden bei aller Klage, ja Anklage fest: Gott hat sich nicht von der Welt abgewandt, sondern er bleibt ihr und uns zugewandt. „Trotzdem werde ich Gott sehen... und er wird für mich kein Fremder sein.
Wir Christ*innen sehen Gott, sehen unseren „Erlöser“ in Jesus Christus. In ihm ist Gott uns nahe gekommen und hat unser Leben geteilt bis in die tiefsten Tiefen des Leidens, bis nach Gethsemane und bis ans Kreuz in Golgatha. „Er zog den Weg, den schweren. Er trug sein eignes Kreuz. Er bat: Vergib es ihnen! Er litt und starb auf Golgatha. Er litt und tat’s für uns, für alle und für uns.“ So haben wir es gerade in einem modernen Passionslied gehört. Gott ist für uns kein „Fremder“ und kein Herr-Gott, sondern der Gott, der in Jesus Christus mit uns geht und unser Leiden trägt. Er hat uns zu Ostern mit Christi Auferweckung die Hoffnung gegeben, dass auch wir einst auferweckt werden zu einem neuen, ewigen Leben – jenseits allen Leides, aller Schmerzen, allen Unrechts und aller Gewalt. „Ich weiß ja doch, dass mein Erlöser lebt.“ Diese Hoffnung trägt uns, mitten im Leiden.
Amen.